Was von Wut und Trauer bleibt (1)
Von Flynn Lexton
Felswacht ist ein karges und unbarmherziges Land. Aber glücklicherweise ergeben sich dadurch auch mehr Möglichkeiten, Reisende zu treffen. Da man in der Wüste nirgendwo zelten kann, muss man sich eine Oase suchen, und weil es nur wenige Plätze zur Auswahl gibt, trifft man zwangsläufig auf andere Reisende. Und wenn man sich oft begegnet, lernt man sich irgendwann kennen. An einer solchen Oase in der Wüste traf ich zum ersten Mal auf Regina Lehman, eine Künstlerin, die ihren Mangel an Geselligkeit durch ihre hohe Begabung wettmachte. Sie hatte unzählige Monsterskizzen dabei und sagte, ich sei der Erste, der sich für ihre Werke interessiere.
„Ich kann es nicht glauben! Alle anderen fragen nur, warum ich mein Leben mit diesen Zeichnungen vergeude!“ Ich konnte nicht glauben, dass sie dieselbe Person war, die mehr als zwei Stunden lang inmitten der Karawanen rund um das Lagerfeuer in der Oase still vor sich hin gezeichnet hatte. Sie öffnete sofort ihren Rucksack mit den aufgerollten Pergamenten, als wollte sie mir alle Zeichnungen zeigen, die sie hatte. Ich versuchte, Regina daran zu erinnern, dass wir uns nicht in einem friedlichen Gasthof auf Burg Felswacht befanden, aber es war sinnlos. Zum Glück ließ sie sich nicht beirren. Denn als sie mir weitere Zeichnungen zeigte, wurde mir klar, dass ihr vollgestopfter Rucksack in Wirklichkeit eine Tasche voll mit Schätzen war. Ihre Zeichnungen waren grazil und voller Leben und ich zeigte auf eine nach der anderen und fragte sie, wie sie es geschafft hatte, solch unglaublich gefährliche Geschöpfe so detailreich zu zeichnen.
„Oh, das da! Das war wirklich schwer zu zeichnen. Es hat einen scharfen Sinn, wenn es darum geht, Menschen aufzuspüren!“
Die Zeichnung, die sie mir zeigte, war ein Temitran mit furchterregendem Antlitz. Der einzige Ort, an dem Temitran lebten, war die Tobende Wildnis, also fragte ich aufgeregt, wie sie sich der Kreatur genähert hatte. Was von Wut und Trauer bleibt (2)
Die Tobende Wildnis steckt voller äußerst brutaler Temitran, die Bezeichnung „Die Tobende Wildnis“ ist so gesehen also durchaus treffend. Schlimmer noch, es wimmelt dort von herrenlosen Golems, die jeden vernichten, der sich ihnen nähert. Es gibt sogar einen riesigen kaputten Golem namens „Talus“, der jede Kreatur in seiner Nähe angreift. Selbst einige passionierte und furchtlose Monstergelehrte halten den Ort für zu gefährlich, um ihn zu erforschen. Es ist jedoch erwähnenswert, dass es einen bedeutenden Unterschied zwischen der Monster- und der Golem-Forschung gibt. (Ich würde gerne näher darauf eingehen, aber das würde den Rahmen dieses Tagebuchs sprengen, also hebe ich mir das für ein späteres Buch auf.) Als Gelehrter und Historiker ist es äußerst interessant, dass diese beiden Arten von Kreaturen, die von Natur aus sehr unterschiedlich sind, stets nach demselben Verhaltensmuster handeln: Sie versuchen, jeden zu eliminieren, der ihr Revier betritt. Regina sagte, sie habe die Hilfe eines ziemlich erfahrenen Freundes aus dem Widerstand gebraucht, um die Skizze fertigzustellen. Sie erzählte mir dann die Geschichte, die sie von eben diesem Freund gehört hatte. „Wusstest du, dass Talus ursprünglich der Name einer Person war?“
Die Geschichte, die sie mir erzählte, war eine alte Legende, die in der Nähe der Tobenden Wildnis weitergegeben wurde. Ich hatte eine ganz ähnliche Geschichte von einem alten Maurer gehört, der in der Heiligtum-Oase lebte, also lauschte ich ihrer Erzählung interessiert, für den Fall, dass sie fehlende Details ergänzen könnte. Jene Legende besagt, dass vor langer Zeit, in einem Zeitalter nach Fortgang der Elfen, als Felswacht noch von grünem Waldland bedeckt war, ein Krieg zwischen Menschen und Mitran ausbrach. Ursprünglich genossen die Menschen durch das Wohlwollen der Mitran die Vorzüge des Waldes, aber als die menschliche Bevölkerung wuchs, reichte ihnen das nicht mehr aus. Einige Menschen versuchten, die Mitran in eine Falle zu locken und auszubeuten, woraufhin die Mitran die Temitran erschufen, um die Menschen zu bekämpfen. Um zurückzuschlagen, entwarfen die Menschen Golems und nutzten dabei das Wissen von Zauberern. Der Konflikt geriet jedoch in eine Sackgasse: Keiner der beiden war stark genug, den Sieg davonzutragen, und der Krieg nahm kein Ende. Das war alles, was ich über die Legende wusste, basierend auf den Geschichten, die ich gesammelt hatte. Was von Wut und Trauer bleibt (3)
Es war Talus, der geniale Zauberer, der den größten Golem erschuf. Nach einer gängigen Geschichte schuf er diesen riesigen Golem für die Menschen, starb jedoch, weil der Golem außer Kontrolle geriet. Regina erzählte mir allerdings etwas anderes.
„Talus’ ursprünglicher Plan war es, die Temitran mithilfe der Golems zu unterwerfen und dem Krieg zwischen Menschen und Mitran ein Ende zu setzen. Seine Motive waren verständlich, wenn man bedenkt, dass der Krieg schon über hundert Jahre andauerte. Doch bevor die Golems den Sieg erringen konnten, verloren die Menschen die Geduld und steckten den Wald in Brand.“
Als Talus sah, wie die Temitran schrien und starben, während der Wald brannte, war er über den Egoismus und die Grausamkeit der Menschen entsetzt. Schließlich sollte der Wald, den sie zerstörten, nicht nur ein Zuhause für Mitran sein, sondern für alle Lebewesen, einschließlich der Menschen. Aus Verzweiflung über diese selbstsüchtige Tat der Menschen, über ihre Zerstörungswut bezüglich allem, das sie nicht für sich selbst haben konnten, soll Talus auf dem Schlachtfeld geblieben sein, während es brannte.
„Du kennst doch den hohen Felsberg in der Tobenden Wildnis, der wie ein Turm aussieht, oder? Nun, es war wirklich mal ein Turm und der Ort, von dem aus Talus die Golems kontrollierte. Talus ist dort geblieben und hat im Grunde genommen sein Leben gelassen, obwohl er hätte fliehen können.“
Regina sagte, das erkläre, warum sich weder die Golems noch die Temitran jemals dem Turm nähern. Nachdem sie so viel von ihrem Freund erfahren hatte, konnte sie sich im Turm verstecken und nach Herzenslust Temitran beobachten und zeichnen. Nachdem ich diese Geschichte gehört hatte, sah ich mir die Zeichnung des Temitran noch einmal an und konnte verstehen, warum sie ihn als eine Kreatur voller unbekannter Wut und Trauer darstellte und nicht nur als das leblose hölzerne Monster, das Steine wirft, wie es die meisten Abenteurer berichten. Dieses Verstehen der vermeintlichen Monster war es auch, was ihren Zeichnungen Leben verlieh. Was von Wut und Trauer bleibt (4)
Ich sagte ihr, dass ich ihre Zeichnung zusammen mit einem Bericht über diese Geschichte in mein Buch aufnehmen wollte. Sie war sehr erfreut und sagte, sie würde mir auch weiterhin alle anderen Monsterillustrationen zur Verfügung stellen, die ich benötige. Obwohl normale Menschen nie im Leben einen Temitran sehen werden, wäre es wirklich schade, wenn sie nicht wenigstens etwas aus der Geschichte der Temitran lernen würden. |